6. KAPITEL

Die Schule war seit Stunden aus.

Sobald Buffy und Giles vom Friedhof zurückgekehrt waren, hatten sie Willow und Xander zu einer dringenden Konferenz einberufen, und nun saßen die vier schon seit geraumer Zeit in der Bibliothek und redeten über das Grabmal der du Lac.

„Giles ist also sicher, daß der Vampir, der das Buch gestohlen hat, in Verbindung mit dem steht, den du letzte Nacht erschlagen hast?” wollte Willow von Buffy wissen.

„Ja”, gab Giles zerstreut zur Antwort. Er strich zwischen den Bücherregalen herum und tauchte schließlich mit einer vergilbten Zeitschrift wieder auf. „Da bin ich mir sicher.”

Er legte die Zeitschrift vor ihnen auf den Tisch. Es war eine National Geographie aus dem Jahre 1921.

„Du Lac war sowohl Theologe als auch Mathematiker", dozierte Giles. „In einem Artikel dieser Ausgabe wird eine seiner Erfindungen beschrieben, die er das du Lac-Kreuz nannte."

„Warum macht er sich bloß die Mühe, etwas zu erfinden und ihm dann so einen einfallslosen Namen zu geben!" fiel ihm Xander ins Wort. „Ich hätte es ,Kreuz-o-matic!' oder ,Der unglaubliche Mr. Kreuz!' genannt."

Er verstummte, als er bemerkte, wie die anderen ihn anschauten. Giles schlug die Zeitschrift auf und zeigte ihnen eine vergilbte Aufnahme des Kreuzes. Willow vertiefte sich in den Artikel.

„Das Kreuz war mehr als nur ein Symbol", fuhr Giles fort. „Es diente dazu, bestimmte mystische Texte zu verstehen, verborgene Bedeutungen zu entschlüsseln und so weiter."

Stirnrunzelnd blickte Buffy zu ihm auf. „Sie meinen, diese Vampire haben sich die ganze Mühe gemacht, bloß um diesen Hauptdechiffrierer zu ergattern?"

Giles sah sie verdutzt an. „Ja, das meine ich."

„Wenn man diesem Artikel hier glauben darf', schaltete sich Willow ein, „dann hat du Lac jedes der Kreuze zerstört bis auf das, mit dem er begraben wurde."

Wieder legte Buffy die Stirn in Falten. „Warum sollte er sein eigenes Werk zerstören?"

„Ich nehme an, er befürchtete, daß das Kreuz in die falschen Hände geraten könnte", erklärte Giles.

„Eine Furcht, die wir schon bald am eigenen Leib verspüren werden", erinnerte ihn Xander.

„Falls wir nicht ihre Pläne vereiteln", fügte Giles hinzu.

Eifrig beugte sich Willow vor. „Wie denn?"

„Indem wir das Buch entschlüsseln, bevor sie es tun." Giles sah sie grimmig entschlossen an. „Und das bedeutet, daß wir heute noch lange aufbleiben müssen."

„Oh toll!" strahlte Willow. „Eine Untersuchungs-Party!"

„Will", ermahnte Xander sie. „Du brauchst wirklich mal ein bißchen Abwechslung!"

„Wo wir gerade davon reden", fiel Buffy ihm fröhlich ins Wort. „Ich muß leider blaumachen. Ich verspreche euch, morgen in aller Frühe wieder dazusein, frisch und ausgeruht und zur Schlacht bereit."

Giles sah sie verständnislos an. „Das ist eine ziemlich dringende Angelegenheit, Buffy."

„Ich weiß", gab sie rasch zu. „Aber ihr müßt doch zugeben, daß ich von Büchern nicht so viel Ahnung habe. Ihr seid die klugen Köpfe. Ich wäre doch nur da, um moralische Unterstützung zu leisten."

„Das stimmt nicht, Buffy", erwiderte Xander trocken. „Du bist ganz wichtig für uns. Du sorgst nämlich für die Verpfle gung."

Buffy warf Willow, der Mitwisserin ihres Geheimnisses, einen flehenden Blick zu.

„Sie sollte doch gehen", stimmte Willow hastig zu. „Ihr wißt schon, sie muß Kräfte sammeln."

Giles dachte einen Augenblick nach. „Vielleicht hast du recht. Es könnten schwere Kämpfe auf sie zukommen."

„Aber Essen ist ein wichtiger Bestandteil meines Erkenntnisprozesses", gab Xander zu bedenken.

Buffy warf ihm einen um Verzeihung heischenden Blick zu. „Sorry, Xand. Es gibt da etwas, das ich heute abend wirklich tun muß."

Und schon flitzte sie aus der Bibliothek und ließ Giles und Xander verblüfft stehen.

Die Eisbahn sah in dieser Nacht wirklich wunderschön aus. Ein verzauberter Ort, dachte Buffy und lächelte.

Sie war ganz allein. Während sie auf dem Eis ihre Runden drehte, schien der Mond durch die hohen Fenster und tauchte die Bahn in ein sanftes silbriges Licht.

Tief sog Buffy die kalte Luft ein. Sie hielt an und genoß ihre Freiheit. Dann stürmte sie wieder los, schneller und schneller. Sie hatte befürchtet, das Eislaufen verlernt zu haben, aber nun stellte sie fest, daß sie sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Fast alles, was man einmal gelernt hat, vergißt man nicht mehr. Sie bewegte sich leicht und graziös, und ihr Haar wehte sanft um ihr Gesicht.

Sie war so in ihr Glück versunken, daß sie nicht bemerkte, daß sie von der Tribüne aus beobachtet wurde. Eine grausame, narbenübersäte Fratze registrierte jede ihrer Bewegungen.

Mit einem bösartigen Grinsen blickte Octarus auf Buffy herab. Sie drehte eine Pirouette und schoß zum anderen Ende der Bahn davon.

Buffy fühlte sich in dieser Nacht wie verzaubert. Sie war eine andere, ihr Herz sang vor Freude - ein Gefühl, das sie schon lange Zeit nicht mehr empfunden hatte. Nun lief sie rückwärts im Kreis und wurde immer schneller, immer mutiger. Sie setzte zu einem Drehsprung an, spürte dann aber, wie sie am höchsten Punkt das Gleichgewicht verlor. Die Landung war hart und ließ sie noch einige Meter weiterschlittern, bis sie endlich zum Halten kam.

Buffy rang nach Luft. Sie sah einen Schatten vor sich auf dem Eis und drehte sich sofort um.

„Angel?”

Riesige Pranken griffen um ihren Hals. Octarus hob sie wie eine Lumpenpuppe hoch und schleppte sie zum Rand der Eisbahn, wo er sie brutal gegen die Wand drückte.

Buffy wußte nicht, wie ihr geschah. Er hatte sie völlig überraschend erwischt, und sie zog und zerrte und schlug auf seine Riesenpranken ein, konnte den eisernen Griff aber nicht lösen. Sie fühlte nur, wie sich seine Finger enger und enger um ihren Hals schlössen, und plötzlich wurde ihr klar, daß sie sterben würde.

Buffy kämpfte mehr denn je. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt. Alles wurde schwarz .. .

„Buffy!” schrie eine Stimme.

Als Octarus herumfuhr, traf ihn Angels Faust mitten ins Gesicht. Er ließ Buffy los, und sie fiel keuchend zu Boden.

Angels Wut war entfesselt. Buffy sah, daß sich sein schönes Gesicht in eine Vampirfratze verwandelt hatte. Octarus donnerte eine Faust von der Größe eines Schinkens in dieses Gesicht. Angel schlitterte rücklings über das Eis. Als er aufsprang, merkte er, daß er in einer Nische gefangen war. Er brüllte vor Wut und erwartete Octarus' Todesstoß.

Aber Buffy war schon wieder auf den Beinen. Sie sprang über eine Holzbank und landete genau hinter ihrem Feind. Als er sich umdrehte, vollführte sie einen Drehsprung - die scharfen Kufen ihrer Schlittschuhe zuckten wie ein gleißender Blitz.

Der Blitz fuhr an Octarus' Kehle entlang.

Buffy hörte den entsetzlichen Laut, als sie aufgeschlitzt wurde.

Sogar Angel verzog das Gesicht, als er die klaffende Wunde sah. Octarus faßte sich an den Hals und blickte ungläubig auf Buffy herunter. Dann torkelte er wieder auf sie zu. Aber Buffy wich aus. Er stolperte an ihr vorbei aufs Eis hinaus. Man konnte fast Mitleid mit ihm haben.

Buffy sah ihm grimmig schweigend hinterher. Sie spürte, daß Angel hinter sie getreten war. Er drückte sie an sich.

Dann brach Octarus zusammen.

Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er auf die Knie und krachte mit dem Gesicht aufs Eis.

„Sein Lebenslicht wird ausgeblasen", murmelte Drusilla wie im Traum. „In diesem Augenblick."

Sie blickte auf die Zyklopenkarte nieder und sah dann zu Spike hoch.

„Mach dir keine Sorgen", versicherte ihr Spike in dem Bemühen, seine Befürchtungen zu verbergen. „Bald haben wir dieses Manuskript entschlüsselt. Wir brauchen nur noch ein wenig mehr Zeit."

Natürlich konnte er ihr nichts vormachen. Niemand kannte ihn so gut wie Drusilla. Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn.

„Die Zeit arbeitet für uns", flüsterte sie und streichelte seine Wange. „Sie führt die Jägerin näher zu ihnen.”

Sie schauten auf die übrigen beiden Tarotkarten.

Den Wurm und den Jaguar.

07 - Die Angel Chroniken 2
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